Präteritum aus DunkelDortmund

neulich beim Imker_© Archimeda1

Ich habe für heute einen Eintrag aus dem Vorblog genommen.
Er ist vom 13. März 2012

Die Situation hat sich arbeitstechnisch zwar sehr geändert, aber der Rest ist das tägliche Leben, wie es hier immer wieder abläuft.

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Auch heute morgen mußte ich wieder mit der Straßenbahn fahren.
Erst war es ziemlich leer, dann wurde es nach und nach voller.

An einer Haltestelle steigt dann eine ältere Frau ein. Ich schätze sie um 55, ziemlich ungepflegt, bejackt in der Dienstkleidung von DSW 21.
Ununterbrochen redet sie mit ihrem Kollegen.
Krampfhaft versuche ich wegzuhören, krampfhaft suche ich einen Punkt, auf den ich mich konzentrieren kann, mich geistig festhalten kann um den Inhalt des Gesprächs nicht verarbeiten müssen.
Sie spricht sehr laut.
Eine naive Sprache, mit einer Stimme, die sich anhört, als ob sie ihre Stimmbänder gestern in Jägermeister oder anderes getaucht hätte.

Es gelingt mir nicht.
Ich höre diesen Irrsinn, ob ich will oder nicht.
Meine Hände zittern.
Ich möchte nicht ihre Intimgeschichten hören; nicht mal virtuell in ihrer Haut stecken.

Ich bin wütend.
So wütend. Wann steigt sie endlich aus ?
Warum gelingt es mir nicht mich zur Ruhe zu zwingen ?
Die meiste Wut richtet sich an mich.

Irgendwann kommt die Frage an ihren Kollegen :
” Weißt du, was ich jetzt möchte ? Einfach hier einschlafen und sterben. ”

> Verdammt ! Warum tust du es dann nicht, du verkommene Schlampe ?
Stirb endlich, damit andere dich nicht ertragen müssen ! <

In der Hospitz und in der forensischen Klinik, in denen ich  damals als Schwester gearbeitet habe, wollten die Leute leben.
Sie haben gekämpft um jede Sekunde.
Sie klammerten sich im Todeskampf an meine Hände,
bis mir das Blut darin erstarrte.

Da vorn aber sitzt eine Frau, die nicht leben will.
Vollgefressen und verkommen.
Zur Arbeit eingeteilt, damit der Staat wenigstens so tut, als ob es weniger Arbeitslose gibt.
Ich schau mich nach einem anderen Sitzplatz um.
Die Wahl habe ich zwischen Klein-Jamaica und Klein-Ankara.
Ich sehe, dort ist noch ein Platz frei.
Leider komm ich nicht dahin, weil ich blond bin.
Ich mag nicht angesprochen werden.

Ich ringe um meine Beherrschung.

An der nächsten Haltestelle steige ich aus. Den Rest, bis zur Bushaltestelle kann ich laufen.
20 Minuten später ist der Bus da.
Weitere 5 Minuten später schiebt sich eine 200 kg-Frau hinein;
unauffällig gekleidet in rosa Shorts, einem gelben fast durchsichtigen Shirt,
mit Flecken an ihren Brüsten, die sagen, dass das Ei heute morgen wohl weich gegessen wurde.
An ihrer Hand baumelt eine Plastikhandtasche in modischem orange, rosa und lila.
Verziert ist diese mit bunten Gummischmetterlingen, und Perlen.

> Meine Güte, wo – nur wo ist deine Schmerzgrenze ?
Ist dein Spiegel zugeklebt, oder passt du nur nicht davor ? <

In der Hand halte ich mein Frühstücksbrot.
Ich schau es an. Es ist Käse drauf.
Ich erinnere  mich an gestern, an mein eigenes Spiegelbild.
Auch ich bin nicht superschlank.
Ich habe einige Kilos zugenommen, bin aber bereits auf Rücktour.
Versteht mich nicht falsch.
Ich habe nichts gegen dicke Leute, nur sollte man einen gewissen Stil bewahren.
Sauber und ein wenig bedeckt an bestimmten Stellen, das würde reichen.

Ich versuche mein Brot zu hypnotisieren.
Mein Hals schnürt sich zu.
Ich glaube zu ersticken.
Ich kämpfe mit meinem Ich.

> Hier kannst du nicht aussteigen.
Du schaffst diesen weiten Weg nicht bis zur Arbeit.<

Ich pack mein Brot ein.
Ich weiß, ich werde es nicht mehr anfassen.
Später werde ich es vernichten.
Im Klo runterspülen, wie so vieles, was ich mitnehme.

Eine Haltestelle weiter steigen Leute dazu.
” Brat mir doch einer mal´nen Storch ” höre ich nur.
Mein Ohr vergrößert sich automatisch.
Es wandert am Sitz runter, um eine Ecke des Sitzplatzes,
nur zu diesen einzigen Zweck – um zu lauschen.

Storch braten ?
In Dunkeldortmund ?
Ich staune.
In Winsen/Aller gibt es Störche auf den Dächern.
Gebraten werden sie eher nicht.

Man höre weiter :
” Musse auch so früh malochen ? ”
Ich ziehe mein Ohr wieder ein.
Sprachmörder, diese.

Einige Zeit später steige ich aus.
Ich starte meinen Rechner, geh nach oben in die Kantine.
Dort ist die Raucherterrasse.
Ich stehe dort an der Brüstung, schaue in die Tiefe auf die Straße mit den vielen Autos.
Mein Blick schweift über die entfernten Bäume.
Ich möchte sie berühren. Es sind nur Laubbäume.
So gern würde ich zu meinen Tannen.
– unerreichbar

Ich bin festgefroren in dieser Großstadt.
Meine Gedanken vereisen hier.
Eine weitere unmächtige Wut steigt in mir hoch.
Tag für Tag merke ich, dass meine Aggressionen steigen.
Ein kleiner Funke noch, dann werde ich explodieren.

Warum hat man mir nicht erklärt, was hier so los ist ?
Warum hat man mir nicht gesagt, dass ich hier so einsam bin.
Viel einsamer, als in der Natur.
Warum hat man mir nicht gesagt, dass ich nur erwünscht bin,
wenn ich mich anpasse ?
Eine Marionette, die jeden Tag ein wenig mehr verfault.
Ein Püppchen, das gehorchen soll,
sich verleugnen um nicht aufzufallen.
Nie!
Nein, nie wäre ich hier hin gezogen.
Ich gehöre in die Natur.
Ich brauche meine Tiere und Pflanzen.
Den Geruch der Einsamkeit um mich herum.
Ich möchte wieder meine Hand ausstrecken.
Es fliegen Schmetterlinge und Hummeln darauf,
bereit, sich von mir streicheln zu lassen,
wie schon so oft.

Träne für Träne kullert an mir herunter,
betropfen meine frisch gebügelte Bluse, die niemanden interessiert,
weil hier auch Ungebügeltes angezogen wird.

Ich muss hier weg.
Ich kann hier nicht leben.
Ich kann andere Menschen in dieser Form nicht respektieren.

Ich kann nicht ducken, mich anpassen, diese Verkommenheit tolerieren.
Das wäre eine Lüge an mir, an andere.
Jedes Wort kommt auf die Waage.
Kein Wort gelingt mir zu vergessen.

Ich versuche tief zu atmen.
Ich ringe weiterhin nach Luft.
Ich brauche meine Stille.
Ich mag nicht mehr reden.
Ich rede genug, wenn ich arbeite.
Ich fühle mich fiebrig und krank.

Diese verlogene, verdreckte Scheißbande um mich herum kotzt mich an.
Die Stadt zerstört mich.
Sie zerstört meine Welt der schillernden Seifenblasen.
Sie zerstört meine träumerischen Illusionen an das Gute in jedem Menschen.

© Archimeda1

Dreck in DunkelDortmund_© Archimeda1

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8 Responses to Präteritum aus DunkelDortmund

  1. Hallo Uli,

    ich kann mich noch gut daran erinnern als Du es geschrieben hast. Ja, solange kennen wir uns schon über unseren Blog. Nun sitzt Du aber leider immer noch in dieser Stadt, die Du nicht magst. Wo ist Euer Häuschen in der Natur? Habt Ihr immer noch nichts gefunden? Perfekt wird keines sein, das ist nun mal so. Es gibt auch die Möglichkeit dort etwas zu mieten, zumindest bis Ihr Euer Traumhaus gefunden habt. Aber natürlich verstehe ich auch, dass man nicht gerne umzieht. Wenn ich an meinen Umzug denke, dann sage ich nie mehr.

    Ich wünsche Dir die Kraft durchzuhalten und Euch beiden viel Glück bei der Suche von Eurem neuen Zuhause.

    Liebe Grüße, Kathy

    • Hallo Kathy

      Ich habe eine Arbeit, die brauch eine gewisse DSL-Leitung. 2000 reichen dazu nicht. Dörflich wird selten etwas angeboten. Das letzte Häuschen mit 3000 haben wir ausgeschlossen, weil gerade in der Nähe ein Asylantenheim hinkommen sollte, Salzhemmendorf. Mehr brauche ich wohl nicht sagen.
      Es ist alles so verfahren. Ich strukturiere gerade alles um, denke dass ich etwas anderes arbeiten werden muss, um hier weg zukommen.

      Wir kennen uns schon vor 2012 🙂
      Vielen Dank für deine lieben Wünsche.

      lg Uli

  2. Guten Abend Uli,
    so viel, so viel Sehnsucht. Und das schon seit 2012. Ich interpretiere das jetzt mal positiv: Du bist ein psychisch starkes Wesen, obwohl sich das nicht so liest. Denn ein schwaches Wesen wäre an dieser Außenwelt vielleicht schon zugrunde gegangen.
    Es wird wohl noch eine Weile so weiter gehen, falls nicht…..
    LG Joachim

    • Hallo Joachim

      Vielen Dank für deinen Trost. Es wird noch ein Weilchen weiter gehen müssen. Ich spiele meine Rolle, wie zuvor und bin abends erst ich selber. Man gewöhnt sich an eine Rolle, aber nie an eine Großstadt. Ich schrieb ja schon zu Kathy, dass ich umstrukturiere. Es wird sich einiges verändern, brauch wohl gut überlegte Zeit. Ich möchte nichts überstürzen.

      liebe Grüße Uli

  3. Hallo Uli,

    Zuerst mal meine Hochachtung, denn in einem Hospitz arbeiten, das können wahrscheinlich nur wenige ohne daran zu zerbrechen.

    In einer Stadt oder auch in einem größeren Ort könnte ich auch nicht leben denn zu viele Menschen auf dem Haufen sind mir unangenehm, darum gehe ich ja auch ganz früh einkaufen und mache einen Bogen um große Veranstaltungen.

    Tja das manche Menschen sich so gehen lassen ist mir auch ein Rätsel, das man auch mit weniger Geld sauber und ordentlich aussehen kann haben meine Eltern bei 7 Kindern jahrelang unter Beweis gestellt, liebe Grüße Regina

    • Guten Abend Regina

      Ich hatte auch gedacht, dass man zerbrechen könnte, wenn man Menschen zum anderen Leben begleitet. Das ist nicht der Fall. Man erweitert seine Sinne, fühlt sich geborgen, weil gerade die Sterbenden besondere Fähigkeiten haben. Sie sind einfühlsam und erzählen Geschichten, die sie erleben werden, weil sie besondere Träume haben.
      Man kann ihnen volle Liebe geben, das ist ein schönes Gefühl.
      Der Tot ist nicht das Ende, es ist eine andere Erfahrung, gehört zum Leben.
      Natürlich trauere ich auch sehr, wenn ein Mensch oder Tier stirbt, aber trauert man nicht nur darum, weil man verlassen wurde und alleine ist ?
      Wüsste man, dass der Verstorbene aber in ein anderes Leben übergleitet, sollte man sich doch freuen.
      Ehrlich gesagt, ich verstehe das auch noch nicht so ganz. Ich kann nur Erfahrungen der Sterbenden nachplappern, hoffe das sie wirklich das erleben, was sie erträumen.

      liebe Grüße Uli

  4. Hallo Uli,

    in unserem Dorf sind überall schon neue Leitungen verlegt aber leider noch nicht angeschlossen. Wir haben DSL 3000 und gegenüber unsere Nachbarn haben DSL 16000. Da liegen gerade mal 50 Meter dazwischen.

    Verständlich, dass Ihr so einen Ort ausschließt, wo ein Asylantenheim gebaut wird. Aber wahrscheinlich wird das bald überall so sein. Sie kommen in Massen und es werden immer mehr. Merkel und Gauck rufen sie in unser Land. Diese Nachricht verbreitet sich in der ganzen Welt.

    Trotzdem, ich drücke Euch weiterhin die Daumen und wünsche viel Glück bei der Suche.

    Liebe Grüße, Kathy

    • Hi Kathy

      Solange man am Funknetz und LTE in ländlichen Gegenden eine Masse verdienen kann, wird kein neues I-Net geschaffen. Sie tun halt nur so. Der Staat sagte nur, Internet sollte flächendeckend zur Verfügung stehen, aber nicht wie. LTE ist nutzbar, Funk auch, aber entweder nur begrenzt oder bei gutem Wetter, dazu noch sehr teuer.

      lg Uli