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  • Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

     

     

    Ein Weihnachtsmärchen von Hans Christian Andersen

    Es war fürchterlich kalt; es schneite und begann dunkler Abend zu werden, es war der letzte Abend in Jahre, Neujahrsabend! In dieser Kälte und in dieser Finsternis ging ein kleines Mädchen mit bloßem Kopfe und nackten Füßen auf der Straße. Sie hatte freilich Pantoffeln gehabt, als sie vom Hause wegging, aber was half das! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt getragen, so groß waren sie, diese verlor die Kleine, als sie sich beeilte, über die Straße zu gelangen, indem zwei Wagen gewaltig schnell daher jagten. Der eine Pantoffel war nicht wieder zu finden und mit dem andern lief ein Knabe davon, der sagte, er könne ihn als Wiege benutzen, wenn er selbst einmal Kinder bekomme.

    Da ging nun das armen Mädchen auf den bloßen, kleinen Füßen, die ganz rot und blau vor Kälte waren. In einer alten Schürze hielt sie eine Menge Schwefelhölzer und ein Bund trug sie in der Hand. Niemand hatte ihr während des ganzen Tages etwas abgekauft, Niemand hatte ihr auch nur einen Dreier geschenkt; hungrig und halberfroren schlich sie einher und sah sehr gedrückt aus, die arme Kleine! Die Schneeflocken fielen in ihr langes, gelbes Haar, welches sich schön über den Hals lockte, aber an Pracht dachte sie freilich nicht.

    In einem Winkel zwischen zwei Häusern – das eine sprang etwas weiter in die Straße vor, als das andere – da setzte sie sich und kauerte sich zusammen. Die kleinen Füße hatte sie fest angezogen, aber es fror sie noch mehr, und sie wagte nicht nach Hause zu gehen, denn sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, nicht einen einzigen Dreier erhalten. Ihr Vater würde sie schlagen, und kalt war es daheim auch, sie hatten nur das Dach gerade über sich und da pfiff der Wind hinein, obgleich Stroh und Lappen zwischen die größten Spalten gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren vor Kälte fast ganz erstarrt. Ach! Ein Schwefelhölzchen könnte gewiss recht gut tun; wenn sie nur wagen dürfte, eins aus dem Bund herauszuziehen, es gegen die Wand zu streichen und die Finger daran zu wärmen. Sie zog eins heraus, “Ritsch!” Wie sprühte es, wie brannte es! Es gab eine warme, helle Flamme, wie ein kleines Licht, als sie die Hand darum hielt; es war ein wunderbares Licht! Es kam dem kleinen Mädchen vor, als sitze sie vor einem großen eisernen Ofen mit Messingfüßen und einem messingenen Aufsatz; das Feuer brannte ganz herrlich darin und wärmte schön! – Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen – da erlosch die Flamme, der Ofen verschwand – sie saß mit einem kleinen Stumpf des ausgebrannten Schwefelholzes in der Hand. Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und wo der Schein desselben auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Flor. Sie sah gerade in das Zimmer hinein, wo der Tisch mit einem glänzendweißen Tischtuch und mit seinem Porzellan gedeckt stand, und herrlich dampfte eine mit Pflaumen und Äpfeln gefüllte gebratene Gans darauf! Und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel herab, watschelte auf dem Fußboden hin mit Gabel und Messer im Rücken, gerade auf das arme Mädchen kam sie zu. Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke kalte Mauer war zu sehen.

    Sie zündete ein neues an. Da saß sie unter dem schönsten Weihnachtsbaume. Der war noch größer und aufgeputzter als der, welchen sie zu Weihnachten durch die Glastüre bei dem reichen Kaufmanne erblickt hatte. Viele tausend Lichter brannten auf den grünen Zweigen und bunte Bilder, wie die, welche die Ladenfenster schmückten, schauten zu ihr herab. Die Kleine streckte die beiden Hände in die Höh`- da erlosch das Schwefelholz; die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und immer höher, nun sah sie, dass es die klaren Sterne am Himmel waren, einer davon fiel herab und machte einen langen Feuerstreifen am Himmel

    “Nun stirbt Jemand!” sagte die Kleine, denn ihre alte Großmutter, welche die Einzige war, die sie lieb gehabt hatte, die jetzt aber tot war, hatte gesagt: “Wenn ein Stern fällt, so steigt eine Seele zu Gott empor.”

    Sie strich wieder ein Schwefelholz gegen die Mauer, es leuchtete ringsumher, und im Glanze desselben stand die alte Großmutter, glänzend, mild und lieblich da.

    “Großmutter!” rief die Kleine. “O nimm mich mit! Ich weiß, dass du auch gehst, wenn das Schwefelholz ausgeht; gleichwie der warme Ofen, der schöne Gänsebraten und der große, herrliche Weihnachtsbaum!” – Sie strich eiligst den ganzen Rest der Schwefelhölzer, welche noch im Bunde waren, sie wollte die Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit solchem Glanz, dass es heller war, als am lichten Tage. Die Großmutter war nie so schön, so groß gewesen; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und in Glanz und Freude flogen sie in die Höhe, und da fühlte sie keine Kälte, keinen Hunger, keine Furcht – sie waren bei Gott!

    Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit lächelndem Munde – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging über die kleine Leiche auf, welche mit Schwefelhölzern da saß, wovon ein Bund fast verbrannt war. Sie hat sich wärmen wollen, sagte man. Niemand wusste, was sie Schönes erblickt hatte, in welchem Glanze sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!

    Produktinformation
    • Herausgeber ‏ : ‎ Lappan (1. September 2000)
    • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
    • Elektronik ‏ : ‎ 26 Seiten
    • ISBN-10 ‏ : ‎ 3890821278
    • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3890821276
    • Amazon Bestseller-Rang: Nr. 2,321,436 in Bücher (Siehe Top 100 in Bücher)


  • Die Maskenmörderin Kuchisake-Onna

     

    Eine japanische Urbane Legende besagt, dass einst in der Heian-Zeit (794-1185) ein Samurai, in einigen Geschichten ein Ninja, lebte, welcher eine wunderschöne Frau hatte. Sie war jedoch auch sehr eitel und er wusste nicht, ob sie ihm treu war.

    Er war ein sehr jähzorniger Mann und eines Nachts verlor er die Beherrschung, weil er glaubte, dass seine Frau ihn betrogen hatte. Mit seinem Schwert schlitzte er ihr den Mund von Ohr zu Ohr auf, damit niemand mehr sie schön finden möge.

    Der Legende nach war sie von da an verflucht und gehörte zu den Yōkai, also zu den japanischen Geistern, Monstern oder Dämonen. In nebligen Nächten streift die Kuchisake-Onna durch die Straßen. Früher hatte sie ein Seidentuch vor ihrem Mund, heutzutage trägt sie oft eine in Japan nicht unübliche OP-Maske. Oft trägt sie einen roten Regenmantel und je nach Region hat sie eine große Schere in einer Hand. Trifft sie auf eine Person bei ihren nächtlichen Spaziergängen, so bleibt sie stehen und fragt: “Bin ich schön?”

    Wenn die Person diese Frage bejaht, so reißt die Kuchisake-Onna ihre Maske herab und zeigt ihren weit geöffneten, verstümmeltem Mund, wobei sie fragt: “Jetzt auch noch?” Falls man vor ihr flieht oder in Panik verfällt, so wird sie ihr Opfer unbarmherzig jagen, oft mit Messern oder einer Sense bewaffnet.

    Männer tötet sie auf grauenvolle Art und Weise oder schneidet ihnen mit einer riesigen Schere den Kopf ab. Frauen dagegen macht sie zu einer neuen Kuchisake-Onna, verflucht, von nun an selbst Nacht für Nacht durch die Straßen zu wandern. Kinder bringt sie in ihr Versteck und quält sie dort zu Tode.

    Wenn in einer Variante jemand auf die Frage der Kuchisake-Onna, ob sie auch jetzt noch schön ist, mit “Ja” antwortet, sagt sie: “Dann sollst du genauso schön sein wie ich!” und macht ihr Opfer zu einer neuen Kuchisake-Onna.

    Wer weiß also sicher, wer sich wirklich unter den MundMasken versteckt …

    lg Archi

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  • Die Wahrheit siegt über die Lüge

     

     

     

    [ Ein Märchen aus Litauen ]

     

    Die Wahrheit und die Lüge

    Einmal begegneten sich die Wahrheit und die Lüge. Sie fingen an, sich zu unterhalten. Die Wahrheit sagt, dass die Menschen mit der Wahrheit besser in der Welt leben, doch die Lüge behauptet, dass die Menschen es mit allerlei Betrug besser in der Welt haben. Während sie so streiten, sagt die Lüge: »Ich wette hundert Rubel, dass ich gewinne! Wollen wir vor Gericht entscheiden lassen, wer von uns beiden Recht hat. Wenn ich verliere, gebe ich dir hundert Rubel, und wenn du verlierst, dann gibst du mir hundert Rubel, und ich steche dir noch beide Augen aus.«

    So schlossen sie eine Wette ab und gingen zum Dorfrichter zum Prozess. Die Wahrheit trat vor und legte dem Richter ihre Wahrheit dar, doch die Lüge zeigte ihm währenddessen in ihrem Brustausschnitt einen Hundertrubelschein. Das hieß: Wenn du mir recht gibst, gebe ich dir diesen Hunderter. Der Dorfrichter verstand es sofort, als sie ihm das zeigte, und sagte: »Mit der Lüge lebt der Mensch besser in der Welt. Wer gut lügen kann, der kommt schnell voran.«

    So hatte die Wahrheit den Prozess verloren. Sie musste hundert Rubel geben, und die Lüge stach ihr noch beide Augen aus. Da sitzt die Ärmste nun ohne Augen. Da kamen von ungefähr drei Teufel an. Der eine sagt: »Ich habe einen Mann und seine Frau dazu gebracht, dass sie mit Messern aufeinander losgingen.« Der zweite sagt: »Ich habe Kinder dazu gebracht, dass sie stehlen und ihren Eltern nicht gehorchen.« Und der dritte sagt: »Ich habe heute die ganze Schenke dazu verführt, sich zu betrinken und zu raufen.« Die Lüge hört die Reden der Teufel und sagt: »Alle eure Heldentaten sind doch in Wirklichkeit ein Nichts! Aber ich habe von der Wahrheit selbst hundert Rubel gewonnen und ihr noch beide Augen ausgestochen. Die Wahrheit ist von jetzt an blind.«

    Doch ein Teufel sagt: »O Lüge, der Johannistag liegt für dich noch in weiter Ferne! Die Wahrheit kann weder im Wasser ertrinken noch im Feuer verbrennen. Sie braucht nur ihre Augen mit dem Kräutlein Augenheil zu bestreichen, und schon kann sie wieder sehen.« Doch die Lüge sagt: »Und woher soll sie solche Kräutlein bekommen?« Er sagt: »Aber sie sitzt doch unter ihnen! Sie braucht nur etwas höher zu steigen, die Kräutlein zu pflücken, an das eine Auge zu legen, an das andere – und schon kann sie wieder sehen.«

    Die Teufel flogen davon, doch die Wahrheit hatte alles mit angehört. Sofort stieg sie langsam auf den Berg, pflückte von den Kräutlein dort und legte sie an die Augen. Sie hatte welche gefunden, die die Augen heilten, und ihre Augen wurden wieder gesund. Und als sie das Licht wieder sehen konnte, da sagte sie: »Ich muss mehr von diesem Heilkraut pflücken, vielleicht kann es noch jemandem anderen helfen.« Sie pflückte ein ganzes Tüchlein voll von diesen guten Kräutlein, band die Ecken des Tuches zusammen und ging nach Hause.

    Es währte nicht lange, da wurde die Tochter des Königs an den Augen krank. Und was auch versucht wurde, sie zu heilen – es half alles nichts, sie wurde gänzlich blind. Da ließ der König in seinem und in den umliegenden Königreichen verkünden: Wenn sich ein Arzt findet, der die Augen seiner Tochter zu heilen vermag, so wird ihm der König die Hälfte seines Königreichs geben. Da versammelten sich an seinem Hofe allerlei Ärzte, Zauberer und Hexenmeister und versuchten, sie zu heilen, wie ein jeder es vermochte, doch niemand konnte ihr helfen. Der König wurde zornig und befahl, alle Ärzte mit dem Besenstiel vom Hofe zu jagen. Der König sann und sann, doch er fand keine Abhilfe.

    Da kommt einmal ein Diener des Königs zu ihm und sagt: »Es hat sich hier so ein fremdländisches Weib eingefunden, das sich Wahrheit nennt. Sie will die Tochter des Königs umsonst heilen, nur für den Dank, und die Hälfte des Königreichs braucht sie nicht.« Der König wunderte sich sehr und schickte sofort Diener aus, die sie zu der blinden Königstochter führen sollten. Und sogleich, als sie zur blinden Königstochter gekommen war, rieb sie mit einem Kräutlein ein Auge ein, und sofort konnte sie mit dem Auge sehen. Sie rieb das andere ein, und auch mit dem vermochte sie im selben Augenblick zu sehen. Gleich als sie wieder sehen konnte, lief sie, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, zu ihrem Vater. Und der Vater, als er sie wieder so gesund sah, umarmte und küsste sie in großer Freude.

    Da kam auch die Zauberin Wahrheit zum König. Und der König fragte sie: »Was kann ich dir nun dafür schenken? Wenn du willst, so nimm die Hälfte aller meiner Schätze, oder nimm die Hälfte meines Königreichs!« Da verneigt sich die Wahrheit vor dem König und sagt: »Ich brauche weder deine Schätze noch Königreiche. Wenn du willst, so kannst du mich zum Obersten Richter in deinem Land machen und gebieten, dass keiner von deinen Richtern einen Prozess ohne mich zu Ende führt.«

    Der König ordnete sogleich alles an, wie die Wahrheit es wollte. Von der Zeit an herrschte in allen Prozessen dieses Reiches nur allein die Wahrheit. Die Lüge durfte nicht einmal die Nase über die Grenzen des Landes stecken. Und so siegte die Wahrheit über die Lüge.

     

     

    [ Fjodor Dostojewski ]

    Um Vollkommenheit zu erreichen,
    muss man erst vieles nicht begriffen haben!
    Begreifen wir zu schnell,
    so begreifen wir wahrscheinlich nicht gründlich.

     


  • Wozu die Himmelsleiter gut ist

     

     

     

     

    Die Lebenskerze

    von Inochi no rôzoku

     

    Es gibt den Gedanken, daß das Menschenleben eine brennende Kerze sei, die allmählich herunterbrenne und am Ende unseres Daseins auf der Erde endlich verlösche.

    In einem Dorfe lebten einmal zwei Brüder, die waren am selben Tage geboren. Und in Eintracht lebten sie, ihre Gedanken waren stets die gleichen, alle Arbeit taten sie zusammen, und es gab nie Zwietracht oder Streit. Die Nachbarn meinten, ein so zufriedenes Brüderpaar würde sicherlich auch einmal gemeisam diese Welt verlassen, niemand konnte sich vorstellen, daß nur einer von ihnen zurückbleiben und weiterleben möchte.
    Bei ihrer Geburt hatte man diesen Zwilling natürlich Namen gegeben, aber keiner erinnerte sich an die. Der ältere Zwilling sagte zum jüngeren “Oi”, also “Du”, und der wiederum rief den älternen Bruder “Yai”, das bedeutet “He”. Damit kamen sie sehr gut zurecht, sie hielten ihr Haus reinlich, bestellten ihre Felder und waren für jeden ein schönes Beispiel vollkommener Geschwisterliebe.

    Nun geschah es eines Tages, daß Yai sehr krank wurde. Er konnte sein Lager nicht mehr verlassen, der jüngere Bruder pflegte ihn liebevoll, aber alle Mühe wollte vergebens scheinen. Yai sank in tiefe Bewußtlosigkeit, sein Körper glühte im Fieber, und Oi mußte sehen, wie sein Bruder sich anschickte, in die andere Welt abzureisen. Die tiefste Verzweiflung ergriff ihn, denn er konnte sich ein Leben ohne seinen guten Yai nicht vorstellen. Alle Arznei wollte nicht anschlagen, die herzlichste Pflege konnte nichts ausrichten, und endlich vermochten nur noch die Götter helfen. Oi warf sich auf sein Angesicht und preßte unter Weinen und Klagen hervor: “O ihr Götter im Himmel, so helft doch dem Bruder. Was soll mir das Dasein ohne meinen Yai? Ich will alles für ihn tun, habt doch ein Einsehen und schickt uns Hilfe!”

    Oi verharrte lange Zeit im Gebet, in Yai zeigte sich keinerlei Veränderung, aber da erglänzte auf einmal die Kammer in silberner Helle. Oi schaute verwirrt auf und sah, wie vor ihm auf einer Wolke ein Gott schwebte. Der war angetan in weiße Gewänder, sein Haupthaar war zu Zöpfen gebunden, ja, er sah gerade so aus, wie uns die Alten die Himmlischen, als sie noch auf Erden wandelten, beschrieben haben.

    Der Gott sprach, und seine Stimme hallte durch den Raum: “Ich habe dein Gebet gehört, und ich werde dir gerne raten. Nur du selber kannst dem Bruder helfen, das ist aber nicht leicht. Du mußt in den Himmel hinaufsteigen, den Saal mit den Lebenskerzen aufsuchen und Yais Licht, das umgefallen ist, wieder aufstellen. Der Zugang zu diesem Saal wird von schrecklichen Dämonen bewacht. Bist du bereit zu so einem Abenteuer?” – “Ach Herr, wenn der Bruder wieder gesund wird, will ich gerne alles tun, mir ist nichts zuviel.” – “Gut, dann schicke ich dir die Himmelsleiter!”

    Mit diesen Worten verwehte die himmlische Erscheinung, und in der Kammer war es wieder dunkel. Oi rannte vors Haus, der Gott war nirgends zu erblicken. Aber etwas anderes fiel ihm auf: Aus dem Himmel heraus wuchs ein dunkler Punkt, wurde größer, er kam näher, und endlich konnte Oi sehen, daß es eine lange, lange Leiter war. Diese Leiter senkte sich herab bis zu seinen Füßen. “Da muß ich wohl hinauf”, dachte er, zögerte keinen Augenblick und erklomm die ersten Sprossen. Er kletterte und kletterte, immer geschwinder stieg er hoch. Einmal hielt er an und schaute nach unten. Die Häuser und Felder waren alle ganz klein geworden, Schwindel erfaßte Oi, und es wollte ihm dunkel vor den Augen werden. Aber er gab sich einen Ruck, “es ist für Yai, für meinen Yai”, und er hastete, so schnell er nur konnte, die unendlich lange Leiter weiter hoch. Es ging durch Wolken, der Wind heulte um ihn her, die Leiter schwankte, er ließ sich jedoch nicht erschrecken und stieg mit zusammengebissenen Zähnen nach oben.

    Nach einiger Zeit wehte ihm eine besonders dicke Wolke in den Weg, und als er sie durchquert hatte, war endlich die Leiter zu Ende, er hatte den Himmel erreicht und stand in einem großen, roten Gemach. “Wo ist der Saal mit den Kerzen, von denen der Gott geredet hat, wo ist die Tür dorthin?” Oi schaute sich gehetzt um, und er konnte das Portal schnell entdecken. Aber ein scheußlicher roter Dämon mit einer riesigen Keule in seiner Faust hielt Wache davor. Wie sollte da wohl ein Menschlein unbemerkt durchkommen können?

    Oi drückte sich hastig in eine Ecke, und von dort aus beobachtete er den grimmigen Wächter ganz genau. Er hörte, daß ein lautes Brausen durch den Saal rauschte, und nach kurzer Zeit wurde er gewahr, daß die Augen des Dämonen fest geschlossen waren. Er schlief, und das Brausen war sein Schnarchen. “Da gibt es wohl Hoffnung”, langsam näherte sich Oi dem Türsteher, er erreichte das Portal, und dieses ließ sich öffnen. Vorsichtig, vorsichtig, der Junge stimmte das Quietschen des Türflügels auf das Schnarchen des Dämons ab, zog er die Tür einen Spalt auf und schlüpfte durch.

    “Geschafft!” Schwer atmend lehnte sich Oi an die Pforte, er schaute sich um und merkte, daß er nun in einen blauen Saal gekommen war. Auch der hatte ein hohes Portal, das in einen anderen Raum führte, und davor stand diesmal ein blauer Dämon. Dieser hatte die Augen offen und glotzte grimmig und drohend vor sich hin. Auch hier erfüllte ein Brausen die Luft. Oi stand zuerst wie angewurzelt. Wie sollte er wohl an dem fürchterlichen Wächter vorbeifinden? Wieder beobachtete er das Hindernis, das ihm den Weg in den Saal der Lebenskerzen verwehren wollte, ganz genau. Und er bemerkte bald, daß die Augen des Dämonen zwar offenstanden, sich aber überhaupt nicht bewegten. “Ob der auch schläft?” Oi schlich sich näher, der Dämon rührte sich nicht, er schlief mit offenen Augen. Da nahm das Menschlein seinen ganzen Mut zusammen, ging leise und langsam voran, zwischen den Beinen des Blauen durch, öffnete sachte das Portal und glitt hinüber in den nächsten Raum. Und diesmal war Oi wahrhaftig im Saal der Lebenskerzen angelangt. Unendlich standen die Reihen der aufgestellten Lichter! Sie flackerten, brannten ruhig, verloschen, neue entflammten, es war ein Meer von Lichtern!

    “Wie kann ich Yais Licht finden? Das ist ja unmöglich!” Oi rannte die Reihen ab, auf jeder Kerze war der Name des Besitzers verzeichnet, aber den des Bruders konnte er nicht finden. Gerade eben stand ein Kerzenstümpfchen vor ihm, das flackerte müde. “Ob das Yais Kerze ist?” Und das Licht verlosch. Ein anderer Name war daran geschrieben. Oi schrie auf: “Was mach ich nur, wo ist des Bruders Licht?” Und er jagte weiter.

    Da erscholl von oben her eine Stimme: “Jetzt stehst du davor, beeile dich!” Der Junge verhielt den Schritt, ja, nun sah er es. Vor ihm war eine Kerze, noch schön lang und dick, aber sie war umgefallen. Und Yais Name stand darauf. Zitternd wollte er nach der Kerze greifen, da erscholl abermals die Stimme: “Mit diesen Händen gelingt das nicht, werde zuerst ruhig!” Oi blickte auf seine Hände, sie flatterten vor Aufregung. Er wußte sich nicht mehr zu helfen und brach in Weinen aus. Und die Stimme warnte ihn: “Sei vorsichtig, mit deinen Tränen wirst du die Flamme auslöschen!”

    Oi raffte sich zusammen, er unterdrückte die Tränen, befahl mit seiner ganzen Willenskraft den Händen Ruhe und Sicherheit, er faßte die Kerze und stellte sie auf. Sie flackerte ein paarmal, die Flamme wurde größer, sie zuckte und verlosch. Nur der Docht glimmte noch. Oi sah fassungslos auf das Glimmen, und im gleichen Augenblick flammte die Kerze mit leisem Zischen wieder auf, sie brannte ruhig und sicher. “Ach Yai!” flüsterte er und sank nieder. Die Aufregung und Freude waren zuviel für ihn geworden.

    Nach einiger Zeit kam er wieder zu sich. Er lag daheim in seiner Kammer, und neben ihm ruhte Yai und atmete ruhig. Bald schlug der Bruder die Augen auf, er drehte sich eine wenig auf seinem Lager und sagte ganz vergnügt: “Was habe ich gut geschlafen, ich fühle mich ganz wohl.”

    Oi sah, wie es dem lieben Bruder deutlich besser ging und wie langsam die Farbe in sein Gesicht zurückkehrte. Nur mit Mühe konnte er ihn davon abhalten, sofort aus dem Bett zu springen. “Ist recht, Kleiner, aber höre, ich habe Hunger wie ein Bär, was gibt es denn heute Gutes?” Als Oi diese Worte hörte, wußte er, daß Yai gerettet war. Er rannte in die Küche und bereitete ihm geschwind allerhand Leckerbissen zu.

    Oi vergaß den schuldigen Dank an den Himmel nicht, und die beiden Brüder lebten fortan noch lange einträchtig und zufrieden miteinander.

    [ © Rotraud Saeki ]
    Sammlung jap. Märchen_Übersetzt nach gehörter Erzählung

     

    lg Archi

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  • Rapunzel

     

    [ Märchen der Brüder Grimm ]

    Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen.
    Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward.
    Eines Tages stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war; und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wusste, dass sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blass und elend aus.
    Da erschrak der Mann und fragte: “Was fehlt dir, liebe Frau?” – “Ach,” antwortete sie, “wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.”
    Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: “Eh du deine Frau sterben läßest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will.”
    In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf.
    Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal soviel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen.
    Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. “Wie kannst du es wagen,” sprach sie mit zornigem Blick, “in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen.” –
    “Ach,” antwortete er, “lasst Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen: meine Frau hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.”
    Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: “Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, soviel du willst, allein ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.”
    Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.

    Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich hin und rief:
    “Rapunzel, Rapunzel,
    Laß mir dein Haar herunter.”

    Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin, stieg daran hinauf.

    Nach ein paar Jahren trug es sich zu, dass der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Turm vorüberkam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er still hielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Türe des Turms, aber es war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, dass eine Zauberin herankam, und hörte, wie sie hinaufrief:

    “Rapunzel, Rapunzel,
    Laß dein Haar herunter.”

    Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. “Ist das die Leiter, auf welcher man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.” Und den folgenden Tag, als es anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief:

    “Rapunzel, Rapunzel,
    Laß dein Haar herunter.”

    Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.

    Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, dass es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen.
    Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Mann nehmen wollte, und sie sah, dass er jung und schön war, so dachte sie: “Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,” und sagte ja, und legte ihre Hand in seine Hand.
    Sie sprach: “Ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht, wie ich herabkommen kann. Wenn du kommst, so bringe jedesmal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten, und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst mich auf dein Pferd.”
    Sie verabredeten, dass er bis dahin alle Abend zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte: “Sag Sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.” –
    “Ach du gottloses Kind,” rief die Zauberin, “was muss ich von dir hören, ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!”
    In ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paarmal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben musste.

    Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte, machte abends die Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest, und als der Königssohn kam und rief:

    “Rapunzel, Rapunzel,
    Laß dein Haar herunter.”

    so ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah.
    “Aha,” rief sie höhnisch, “du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.”
    Der Königssohn geriet außer sich vor Schmerzen, und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab: das Leben brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen.
    Da irrte er blind im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und tat nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau.
    So wanderte er einige Jahre im Elend umher und geriet endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte.
    Er vernahm eine Stimme, und sie deuchte ihn so bekannt; da ging er darauf zu, und wie er herankam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte.
    Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst.
    Er führte sie in sein Reich, wo er mit Freude empfangen ward, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.